Sommer mit Aussicht – Leseprobe

Kapitel 1.

Alles andere als eine normale Urlaubsreise

„Können wir bitte kurz anhalten, ich müsste auf die 17.“ Der Zeigefinger meiner Mutter schiebt sich von hinten über meine Schulter und deutet auf ein unscheinbares Autobahnschild mit der Aufschrift „Mühlbuck“, das den nächsten Rastplatz ankündigt.
Jetzt schon?, denke ich und werfe einen verstohlenen Blick auf meine Armbanduhr. Gerade mal 14 Uhr. Vor etwa eineinhalb Stunden haben wir ihre Wohnung bei Bad Kissingen verlassen und sie war doch kurz vor der Abfahrt noch mal auf dem Örtchen. Wie kann es sein, dass sie jetzt schon wieder muss?

„Auf die 17?“ Stefan schnaubt, halb amüsiert, halb gequält, während seine Hände sich um das Lenkrad krampfen, als wäre es Mamas Luftröhre. Im Laufe der Jahre hat er sich an die manchmal etwas gestelzte Ausdrucksweise meiner Mutter gewöhnt. Nichtsdestotrotz durchkreuzt sie mit ihrem Wunsch mal wieder seine Pläne. „Okay …“, ruft er nach hinten und sucht im Rückspiegel Mamas Augen. „Wenn es unbedingt sein muss.“ Stefan mag seine Schwiegermutter, aber er hasst es, unterwegs spontan zu halten. Tatsächlich geht er jetzt ein wenig vom Gas, bleibt aber auf der mittleren Spur und schwupp … fliegt das Schild an uns vorbei.

Ich halte kurz die Luft an. Wenn das so weitergeht, wird dies ein Familienausflug mit tragischem Ausgang. Ich lese bereits die Schlagzeile: Todesfalle Rasthaus-Klo. Familiendrama an der Autobahn. Wie gut kennen Sie Ihre Angehörigen wirklich? Ich kneife die Augen zusammen und mustere Stefan, als sähe ich ihn zum ersten Mal. Dass er Anfang des Jahres vierzig geworden ist, würde man nicht vermuten. Seine Gesichtszüge sind noch immer jugendlich und seine Haut für einen Mann erstaunlich makellos. Und sie ist leicht gebräunt, wie nach ausgiebigen Strandspaziergängen bei milder Frühlingssonne. Dabei geht er in Wirklichkeit nie spazieren, als Unternehmensberater fehlt ihm dafür schlichtweg die Zeit. Gerade erst hat er sich gemeinsam mit einem Kollegen selbstständig gemacht, leitet nun Managerseminare sowie Einzel- und Gruppencoachings. Außerdem berät er Start-up-Firmen in der Gründungsphase und arbeitet im Grunde rund um die Uhr. Ein paar Denkfalten haben sich neuerdings auf seiner Stirn eingegraben, und vereinzelte Strähnen seines kurzen, blonden Haares schimmern silbrig, wenn er wie jetzt den Kopf zur Seite neigt.

„Kannst du es noch ein wenig aushalten, Elisabeth?“ Im Spiegel zwinkert er ihr entschuldigend zu. „Aber wenn wir später noch etwas vom Abend haben möchten, sollten wir so wenig Pausen wie möglich einlegen. Ich schlage deshalb vor …“ Er tippt auf dem Display seines Navigationsgerätes herum, erreicht damit aber nur, dass der Wagen zur Seite ausbricht und gefährlich schlingert.

Mama und ich stoßen einen spitzen Schrei aus. Sofort reißt Stefan das Lenkrad zurück. „Verdammt!“ Aus den Denkfalten auf seiner Stirn sind zwei tiefe Furchen geworden. Einen Moment konzentriert er sich auf den Verkehr, dann wandert sein Blick erneut zum Routenplaner. „Ich schlage also vor“, greift er seinen Satz wieder auf, „noch etwas weiter zu fahren. Wenn alles nach Plan läuft, erreichen wir unser Zwischenziel in der Schweiz voraussichtlich gegen 18 Uhr.“

Meine Mutter tut, als habe sie nichts gehört, aber natürlich will sie Stefan durch ihr Schweigen klarmachen, was sie von seinem Vorschlag hält: nichts.

Ich rutsche ein wenig tiefer in den Beifahrersitz und beobachte sie verstohlen im Außenspiegel. Mama hat ihre Lippen gekräuselt und blinzelt mit zusammengekniffenen Augen angestrengt aus dem Seitenfenster. Sonnenlicht schimmert in ihren kurzen, leicht lockigen Haaren und ich überlege, seit wann sie diesen zarten Blaustich trägt? Er ist … nun ja … gewöhnungsbedürftig. Meine Mutter schaut nach unten, wickelt ihren Zeigefinger in ein Taschentuch und beginnt, sich damit Stirn und Schläfen abzutupfen. Ein wenig gestresst sieht sie aus und ich ahne, was in ihr vorgeht. Sie gehört einer Generation an, in der man bestimmte Dinge nicht in der Öffentlichkeit diskutiert, erst recht nicht mit einem Mann. Denn auch wenn es sich bei diesem Mann um ihren geliebten Schwiegersohn handelt, würde sie vermutlich eher den Rest der Strecke zu Fuß marschieren, als das Thema ihrer vollen Blase weiter zu vertiefen.

Ich grübele, ob ich etwas sagen kann, das die Situation entkrampft, doch ich fürchte, dadurch alles nur schlimmer zu machen. Diese Reise wird kompliziert genug, und wir sollten alles, das nicht zwingend diskutiert werden muss, besser umschiffen. Zum Glück scheint das auch meiner Mutter klar zu sein. Mit einem Ruck richte ich mich auf und schaue nach vorn aus dem Fenster. Immerhin spielt das Wetter mit. Schon heute Vormittag, als Stefan und ich in Frankfurt aufgebrochen sind, blitzte die Sonne strahlend und klar über den Dächern hervor. Inzwischen steht sie beinahe im Zenit und spiegelt sich auf unserer dunklen Motorhaube, als wolle sie sich vergewissern, dass keine Wolken ihren Auftritt trüben.

„Dass ich schon wieder auf die Toilette muss, liegt an den Entwässerungstabletten, die mir der Arzt verschrieben hat.“ Auf der Rückbank hat meine Mutter nun offenbar doch beschlossen, das Thema noch einmal aufzugreifen. In ihrem Tonfall schwingt Trotz mit. „Außerdem bin ich beinahe neunzig. In diesem Alter muss man dankbar sein, wenn sich der Harndrang noch ankündigt.“

So viel zum Schamgefühl ihrer Generation. Stefan und ich tauschen einen verstörten Blick. Während er sich daraufhin kopfschüttelnd dem Verkehr widmet, drehe ich mich nach hinten und sage: „Mama, du bist siebenundsiebzig. Das ist von neunzig noch ziemlich weit entfernt.“

Meine Mutter zieht ihre Brauen in die Höhe. „Nichts macht so alt wie der ständige Versuch, jung zu bleiben“, sagt sie pathetisch, und ihre wachen Augen funkeln mich vielsagend an.

Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll. Sprüche dieser Art begleiten mich schon mein Leben lang, allerdings habe ich das Gefühl, dass diese Marotte von Jahr zu Jahr schlimmer wird. Falls das überhaupt möglich ist. Resigniert drehe ich mich nach vorn und atme einmal tief durch.

Plötzlich werde ich mit Wucht gegen den Gurt gedrückt. Stefan hat einen Kleintransporter überholt und gleich darauf einen rasanten Schlenker auf die rechte Fahrbahn gemacht. „Also gut“, sagt er in gnädigem Tonfall. „Wir halten. Kurz. Ich würde allerdings vorschlagen, dass wir während der Pause auch eine Kleinigkeit zu Mittag essen. Plug and play.“ Er setzt den Blinker. Ein leises Klick-Klack, Kick-Klack ertönt, schon sind wir auf die Ausfahrt abgebogen.

Plug and play? Redet er so in seinen Seminaren?

Meine Mutter stört sich nicht an Stefans Managerjargon, im Gegenteil. Als Zeichen ihrer Zustimmung schiebt sie stumm den nach oben gereckten Daumen vor und lässt ihn neben meinem Gesicht auf und ab wandern. Ich erhasche einen Blick auf ihren Handrücken und staune, wie viele hell- und dunkelbraune Flecken sich dort tummeln. Die Adern treten blassgrün hervor und zeichnen unter der Haut ein erhabenes Muster. Mama wird alt. Die plötzliche Erkenntnis versetzt mir einen Stich. Am Telefon hat ihre Stimme noch immer denselben festen Klang, den ich von früher kenne, so dass in meinem Kopf die Zeit stehen geblieben ist. Doch stattdessen scheint sie förmlich gerannt zu sein.

Mama und ich haben uns in letzter Zeit kaum gesehen. Es ergab sich einfach nicht. Bei meiner Arbeit war die Hölle los, dazu unsere geographische Entfernung und dann … tja … diese dumme Sache, wegen der es zu den vielen Notlügen kam. Eigentlich kein großes Ding, wirklich nicht. Wenn ich nur wüsste, wie ich es aus der Welt räumen soll.

Mama wird ausflippen.

Nicht dran denken. Nicht jetzt.

„Habt ihr Kleingeld?“ Stefan lenkt den Wagen an der Tankstelle vorbei in Richtung Raststätte. Er schaltet den Routenplaner auf Stand-by und manövriert uns in eine Parklücke.

„Ja“, antworten meine Mutter und ich synchron und greifen nach unseren Handtaschen. Die Pause kommt mir sehr gelegen, allerdings aus einem anderen Grund, als der, der meiner Familie vorschwebt. „Geht ihr ruhig schon mal essen“, sage ich leise und so beiläufig wie möglich zu Stefan, „ich muss kurz beruflich telefonieren und komme anschließend nach.“

„Muss das sein, Liebes?“ Mama hat meine Worte gehört und kommentiert, ehe Stefan auch nur den Mund aufmachen kann. „Du hast doch jetzt Urlaub!“

Ich schlucke den Kommentar, der mir dazu auf der Zunge liegt, schnell hinunter. Egal was ich sage, meine Mutter würde meine Argumente nicht gelten lassen. Dabei ist es so simpel: Ich liebe meinen Job. Als Eventmanagerin für den Frankfurter Megastore LUX14 erforsche ich Trends, plane Veranstaltungen, halte den Kontakt zu Künstlern und deren Management. Klar, dass ich dafür rund um die Uhr erreichbar sein und auch mal außerhalb der Bürozeiten telefonieren muss. Beruf und Freizeit lassen sich ohnehin meist gar nicht klar voneinander trennen, aber das stört mich nicht. Im Gegenteil. Ich mag es, wenn sich meine Tage kunterbunt und abwechslungsreich gestalten. Wer mir das Smartphone verbietet, kann mich auch gleich erschießen.

Doch allein schon die Tatsache, dass ich meiner Arbeit nicht ausschließlich am Schreibtisch nachgehe, wirkt auf meine Mutter absolut unseriös. Sie selbst hat früher als Buchhalterin für einen kleinen Musik-Fachverlag gearbeitet. Ein klassischer Bürojob mit geregelten Arbeits- und Urlaubszeiten. So und nicht anders funktioniert das Leben in ihren Augen.

„Niemand, den ich sonst kenne, hängt derart viel am Telefon wie du“, kommt es prompt von hinten. „Und jetzt auch noch während des Urlaubs …“ Ich spüre ihren vorwurfsvollen Blick ein Loch in meinen Rücken brennen.

„Dies ist ja wohl alles andere als eine normale Urlaubsreise“, lasse ich mich nun doch zu einem Kommentar hinreißen. Es klingt patziger, als es beabsichtigt war und ich schaue meine Mutter nicht an, damit sie nicht an meinen Augen abliest, wie wütend mich ihre Kritik macht.

Stattdessen starre ich geradeaus durch die Frontscheibe und beobachte eine kleine Familie, Mutter, Vater und zwei Jungen, wie sie lachend zu ihrem Auto schlendern. Die Kinder essen Eis und haben ihre freie Hand jeweils in die eines Elternteils gelegt. Mein Magen zieht sich zusammen. Wie so ziemlich jedes Mal, wenn ich an den wahren Grund für diese Reise denke.

„Ich wollte damit nur sagen, dass du auf jeden Fall etwas essen solltest“, protestiert meine Mutter. „Wie ich dich kenne, hast du noch nicht einmal gefrühstückt. Bald klappern deine Knochen gegeneinander.“

Das sagt die Richtige, denke ich, behalte es aber für mich. In ihrem zweiteiligen Kostüm, das entfernt an Coco Chanel erinnert, sieht Mama so schmal und dünn aus, als könne die nächste Windbö sie umpusten.

„Ich habe sehr wohl etwas gegessen“, rechtfertige ich mich lahm. Ich weiß, das Gerede macht keinen Sinn. Mein Argument, dass ich zwar schlank, aber keinesfalls dünn bin und dass die Gefahr, vom Fleisch zu fallen, bei mir nicht besteht, würde an meiner Mutter abprallen wie Regen von einem Schirm.

„Sag doch auch mal was dazu, Stefan“, fordert sie ihren Schwiegersohn auf, ihr beizustehen. „Du kannst unmöglich wollen, dass deine Frau zum Knochengerüst abmagert.“ Beiläufig kramt sie ein silbernes Puderdöschen aus ihrer überdimensionalen Handtasche, lässt es aufschnappen und begutachtet sorgfältig ihr Spiegelbild.

Ich schiele zu Stefan und signalisiere ihm durch wildes Augenplinkern: Halt dich zurück, sonst wird alles noch schlimmer. Doch er sieht an mir vorbei, greift sich das Bedienteil des Radios und versucht, es im Handschuhfach zu verstauen. Geräuschvoll hantiert er mit dem sperrigen Inhalt des Fachs, um die Klappe zu schließen. Nebenbei bemerkt er: „Mach dir keine Sorgen, Elisabeth, ich passe auf, dass Luisa nicht ihre schönen Kurven einbüßt.“ Mit Wucht startet er einen erneuten Versuch, das Schloss einschnappen zu lassen. Doch ein Kabel baumelt heraus und vereitelt sein Vorhaben.

Meine Kurven? Hat er mich mal angesehen? Von welchen Kurven redet er?

Während Stefan sich weiter mit dem Fach abmüht, klingelt auf der Rückbank das Handy meiner Mutter. Udo Jürgens singt Ich weiß, was ich will. Dumpf dudelt es aus den Tiefen ihrer Tasche, und ich kann hören, wie Mama bei ihrer Suche immer hektischer wird. Etliche Reißverschlüsse werden auf- und zugezogen, die Musik wird lauter, doch in der enormen Tasche mit ihren schätzungsweise achtzehn Fächern scheint Udo verlorengegangen zu sein. In eindrucksvoller Lautstärke trällert er weiter, was Stefan offenbar zu Höchstleistungen anspornt. Endlich geht das Handschuhfach zu, er lässt sich erleichtert zurück in seinen Sitz fallen und lächelt mich an. Sein Blick wird weich. Ich weiß, was ich will, singt Udo, ich will dich fühlen, wenn der Morgen erwacht. Mit dir den Tag verbringen bis in die Nacht

In Stefans blauen Augen blitzt ein heller Schimmer auf. Ein Funkeln. Mir scheint, als warte er darauf, dass ich etwas sage.

„Ich … ähm …“ Tatsächlich liegt mir gerade einiges auf der Zunge, nicht nur die Frage, was der Spruch mit den Kurven zu bedeuten hat. Doch als ich sehe, dass Stefans Lippen tonlos den Text mitsprechen, als sei er eine an mich gerichtete Botschaft, bleiben mir die Worte im Halse stecken.

... und glauben, nirgends ist ein Ende in Sicht, nein, für uns nicht

Stefans Augen bohren sich in meine. Verlegen knispele ich an meinen Nägeln und fühle, wie ich eine Gänsehaut bekomme.

Mir ist die Situation unangenehm, und ich würde sie liebend gern überspielen, zum Beispiel indem ich ihn frage, warum er mich so ansieht. Jetzt, wo er doch Conni hat.

Aber das ist ein Thema, das ich unter keinen Umständen erwähnen sollte, wenn meine Mutter in Hörweite sitzt. Prüfend drehe ich mich zu ihr um. Sie hat jetzt das Handy am Ohr, nickt in regelmäßigen Abständen und studiert nebenbei einen zerknitterten Zettel, den sie aus den Tiefen der Tasche gezogen haben muss. Doch auch wenn es gerade den Anschein hat, dass sie in ihr Telefonat vertieft ist und hochkonzentriert den Einnahmeplan irgendwelcher Pillen vor sich hinmurmelt, weiß ich nur zu gut, dass ihr von meiner Unterhaltung mit Stefan kein Sterbenswort entgehen würde. Ihre Ohren können überall gleichzeitig Gesprächsfetzen aufschnappen. Jede noch so knappe oder verschlüsselte Äußerung wird von ihr aufgesaugt, unter den graublauen Locken zwischengespeichert und zur nächstbesten Gelegenheit hervorgeholt und analysiert.

Ich kapituliere, schlucke meine Frage schweren Herzens hinunter und sehe wieder zu Stefan.

„Ich weiß, was ich will“, singt er ganz leise und jetzt ohne Udos Begleitung. Sein Blick ist so intensiv, dass ich spüre, wie mein Herz absurderweise ein wenig schneller zu klopfen beginnt. Einen Moment schaffe ich es, ihm in die Augen zu sehen, dann muss ich mich abwenden. Mit dem Kopf voran tauche ich in den Fußraum und beginne geschäftig in meiner Tasche zu kramen.

„Und was ist mit den länglichen Pillen, soll ich die teilen?“, höre ich meine Mutter dumpf auf der Rückbank ins Telefon fragen. „Wie bitte – weglassen?“ Sie klingt entsetzt.

Unbeirrt hänge ich weiter mit dem Oberkörper zwischen meinen Beinen und versuche, etwas ganz anderes zu verstehen, nämlich was sich zwischen Stefan und mir gerade abspielt. Was ist auf einmal mit ihm los? Flirtet er mit mir? Das kann ja wohl kaum sein, schließlich …

„Luisa, ist alles in Ordnung?“, fragt Stefan besorgt.

„Ja … Natürlich! Ich suche nur mein … Notizbuch.“ Tatsächlich taste ich zwischen all meinen Sachen nach dem kleinen schwarzen Büchlein, das ich gleich zum Telefonieren benötige. Vollkommen unzeitgemäß, so ein Heftchen, und dass das Teil so zerfleddert aussieht, macht auf Kunden manchmal einen eigentümlichen Eindruck. Aber ich kann nicht anders. Ich hänge an dem Buch, es ist mein ständiger Begleiter, dem ich alles anvertraue – von neuen Kontaktdaten über spontane Ideen bis hin zu Aufzeichnungen, die ich mir beim Telefonieren mache. Ein Stück Nostalgie, das ich mir sorgsam bewahre. „Ich … hab’s gleich.“

Als ich in Zeitlupe endlich aus dem Fußraum auftauchte, lächelt Stefan mich schon wieder an. Viele kleine Fältchen legen sich um seine Augen, wie ein perfekter, maßgefertigter Rahmen. Hoppla, denke ich. Wie viele es auf einmal sind. Können die alle im letzten halben Jahr entstanden sein?

„Manche Dinge ändern sich nie“, sagt Stefan amüsiert und streicht mit seinen Fingern sanft über meine Hand, in der ich das Notizbüchlein halte. „Gut zu wissen.“

„Tja …“, ich räuspere mich. Auf einmal habe ich einen fetten Kloß im Hals. Was total albern ist, Stefan ist schließlich mein Ehemann. Noch jedenfalls. Ich trage seinen Ring und wir besitzen ein gemeinsames Haus. Es gibt somit keinen Grund, aufgeregt zu sein. Theoretisch. Schnell ziehe ich meine Hand unter seiner weg. „Wollen wir … jetzt mal aussteigen?“

Herrje, was ist nur mit mir los? Wieso bringen mich seine Aufmerksamkeiten so durcheinander?

Übersprungsartig schaue ich zu meiner Mutter nach hinten, die gerade ihr Gespräch beendet.

„Wiederhören, Frau Zink“, verabschiedet sie sich. „Vielen Dank für Ihren Anruf. Und grüßen Sie bitte den Herrn Doktor von mir.“ Sie hat kaum aufgelegt, da schaut sie ungeduldig von mir zu Stefan. „Können wir dann jetzt endlich? Die 17 wartet!“

*

Während meine Mutter und Stefan auf die gläserne Eingangstür der Raststätte zueilen, schlendere ich zu dem Rasenstück hinter den Parkplätzen. In die Mitte der Grünfläche wurde vor nicht allzu langer Zeit ein Vogelbeerbaum gepflanzt. So wie er da steht, einsam und schutzlos in der Sonne, tut mir der junge Baum fast leid. Versonnen streiche ich über die grüngraue Rinde des dünnen Stammes und atme ein paar Mal tief durch. Die Luft ist herrlich. Sommerlich warm und sie duftet blumig, trotz der nahegelegenen Tankstelle und der Autobahn. Eine milde Brise streift meine nackten Oberarme. Ich recke das Gesicht gen Himmel und fühle, wie die wärmenden Sonnenstrahlen ein wohliges Kribbeln auf meiner Haut erzeugen. Doch innerlich will mir nicht recht warm werden.

Auf meinem Handy scrolle ich durch die zuletzt gewählten Nummern, tippe die von Janosch an und höre es kurz darauf in der Leitung rauschen. Irgendwann ertönt ein fremdes Tuten. Drei Mal, dann springt die Mailbox an. Auf Englisch erklärt Janosch, mein ehemaliger Assistent, zurzeit nicht erreichbar zu sein. Wie so oft. Ich bin enttäuscht. Seit Janosch vor einem halben Jahr bei LUX14 gekündigt hat, um sich in London als Trendscout selbstständig zu machen, erreiche ich ihn kaum noch. Trotzdem sind wir heute fast enger befreundet als während unserer gemeinsamen Zeit in Frankfurt. Die Technik macht es möglich. Beinahe täglich schicken wir uns Kurznachrichten oder Fotos und bleiben über Instagram und Facebook im Leben des anderen auf dem Laufenden. Heute muss ich ihn aber dringend persönlich sprechen. „Hi Jano, ich bin’s Luisa“, beginne ich und gerate ins Stocken, als ich merke, wie angespannt sich meine Stimme anhört. „Hast du die Nummer von Yves Rusco rausgekriegt? Bitte melde dich, es geht um …“ Ich breche ab. Obwohl wir uns so nahe stehen, habe ich ihm den Grund für mein Anliegen bislang verschwiegen. Warum, weiß ich gar nicht. Vielleicht, weil ich mir einbilde, dass, je weniger ich über das Thema rede, meine Chancen auf ein Wunder steigen. „Es ist extrem wichtig“, beende ich den Satz und lege auf, ehe ich ihm doch noch von dem Schlamassel erzähle, in dem ich stecke.

gehe zu: Rowohlt-Taschenbuch-Sommer mit Aussicht