Sommer auf Sylt – Leseprobe

1. Kapitel

Austernfischerweg 7

„Wenn ich mir das Meer so anschaue, glaube ich kaum, dass ich darin baden werde. Hat sicher nur 10 Grad.“
„Was für ein Quatsch! Die Kälte spürst du doch gar nicht. Der Rettungsring um deine Hüften isoliert und hält dich warm.“
„Genau! Du hast es bereits als Kind am Längsten von uns dreien im Wasser ausgehalten.“
„Bitte? Wollt ihr etwa andeuten, ich sei fett gewesen?“
„Gewesen?“
Instinktiv rutsche ich in meinem Fahrersitz ein wenig tiefer. Gut, dass wir in zwanzig Minuten endlich Westerland erreichen! Die Stimmung hier im Wagen ist mittlerweile dermaßen explosiv, es fehlt nur noch ein winziger Funke, und einer von uns geht in die Luft.
Möglich, dass ich das sein werde. Auch wenn ich nach Kräften versuche, mich zu beherrschen: Ich habe die Kiefer fest aufeinandergepresst und seit Niebüll nichts mehr gesagt. Doch ein dünner Schweißfilm hat sich wie Sprühkleber auf meine Stirn gelegt und lässt vermutlich erahnen, wie es in meinem Innersten aussieht.

Was war das nur für eine Schnapsidee, mit meiner Mutter und ihren zwei Schwestern nach Sylt zu fahren. Diese ständigen Streitereien hält ja kein Mensch aus! Können die drei nicht mal schweigend aufs Meer schauen? Wenigstens für fünf Minuten? Ich reiße mich schließlich auch zusammen, obwohl mir im Grunde meines Herzens der Sinn danach steht, alle gemeinsam auf dem Hindenburgdamm auszusetzen.

„Eine verdammte Bummelbahn ist das.“ Tante Annegret trommelt ungeduldig mit ihren Schaufelhänden gegen die Scheibe. „Kann das Biest nicht schneller fahren? Nur weil wir Rentner sind, haben wir ja nicht ewig Zeit.“
„Ganz im Gegenteil.“ Tante Christiane ist ausnahmsweise mal derselben Meinung. „Denkt nur an den lieben Ralf. Gerade noch weilte er unter uns und plötzlich –“ Im Rückspiegel sehe ich, wie sie sich mit der flachen Hand über die Kehle fährt. „Mausetot.“
Erschrocken schaue ich zu meiner Mutter. Sie sitzt neben mir auf dem Beifahrersitz, hat den Blick starr nach vorn gerichtet und atmet geräuschvoll ein und ebenso hörbar wieder aus. Ihre Lippen bewegen sich, als formuliere sie stumm an einer Antwort, doch sie schweigt.
Im Rückspiegel werfe ich meiner Tante einen vorwurfsvollen Blick zu. Muss sie so pietätlos daherreden? Papa ist gerade mal ein halbes Jahr tot. Nicht einmal Mama und ich reden in diesem Tonfall über ihn.
Aber da ich ahne, dass eine Zurechtweisung zu nichts führen würde, außer vermutlich, eine erneute Diskussion heraufzubeschwören, halte ich meinen Mund.
Ich rutsche ein Stückchen tiefer im Sitz, schließe die Augen und versuche, mich zu entspannen. Sonst treibt mich dieses Dreiergespann vor Ablauf des Tages in den Wahnsinn.
Wenn ich wenigstens eine Kleinigkeit im Magen hätte. Seit heute Morgen um 6 Uhr der Wecker geklingelt hat, war keine Sekunde Zeit, etwas zu essen. Nicht mal einen Apfel oder sonst irgendeinen Snack habe ich geschafft, zu mir zu nehmen. Aber vielleicht besteht am Bahnhof die Möglichkeit, auf die Schnelle ein belegtes Brötchen zu kaufen.
Ich öffne die Augen, weil mir plötzlich etwas einfällt. Bevor wir ankommen, sollte ich am besten schon mal unser Ziel ins Navi eingeben: Austernfischerweg 7 in Rantum. Dort steht das Haus meines Vaters, das jetzt mein Haus sein soll. Noch immer ist mir der Gedanke fremd, und die Adresse nur ein unbekannter Ort auf der Landkarte. Bis vor Kurzem habe ich ja nicht einmal gewusst, dass mein Vater auf Sylt ein Haus besaß. Niemals ist davon die Rede gewesen. Aber wirklich viel wurde in meiner Familie ohnehin nicht geredet, zumindest nicht in den letzten Jahren. Seit Papa … also seit dieser Sache, war der Kontakt zwischen mir und meinen Eltern alles andere als gut. Von daher kam es mehr als überraschend, dass mein Vater mich in seinem Nachlass explizit bedacht hat. Ausgerechnet mich! Nicht mal im Entferntesten habe ich damit gerechnet, weil wir uns im Grunde nie besonders nahestanden.
Meine Mutter hat mir nach der Testamentseröffnung erklärt, dass das Haus ursprünglich ihren Eltern, also meinen Großeltern gehört hat. Nach ihrem Tod haben sie es zu gleichen Teilen ihren drei Töchtern vermacht. Wohl, um die Mädchen auf diese Art für immer zusammenzuschweißen. Doch das genaue Gegenteil trat ein: Alle wollten lieber Bargeld in den Fingern halten, darum bot sich mein Vater als Käufer an und zahlte meine Tanten aus.
Nachdenklich beobachte ich die vorbeiziehende Landschaft: plattes Land, Wattenmeer, sicher nett für den Urlaub mit Kindern.
Well …“, kündigt Tante Christiane, die vor Jahren in die USA ausgewandert ist, ihren nächsten Satz an. Natürlich spricht sie akzentfrei Deutsch, nutzt aber jede Gelegenheit, ihren Aussagen ein wenig kosmopolitisches Flair einzuhauchen. „Well, ich weiß gar nicht, ob ich es ertrage, das Haus zu betreten.“ Im Rückspiegel kann ich sehen, wie sie schmerzhaft das Gesicht verzieht. „All die Erinnerungen an unsere Kindheit. Es war so eine unbeschwerte Zeit.“
Neben ihr rollt Annegret mit den Augen. „Für dich vielleicht. Du bekamst ja auch grundsätzlich, was du dir in den Kopf gesetzt hattest. Und warst trotzdem nie zufrieden.“ Ihre raue Stimme bekommt einen spöttischen Unterton. „Du fandest unsere Familienurlaube auf Sylt doch sterbenslangweilig. Wolltest lieber nach Frankreich oder Italien. Ferien in Deutschland zu machen war dir peinlich. Wir waren dir peinlich. Ganz besonders ich, die kleine Schwester.“ Sie senkt den Kopf und seufzt. „Also, wenn einer das Haus und überhaupt die Urlaube auf Sylt geliebt hat, war ich es.“
„Blödsinn“, meldet sich auf einmal meine Mutter zu Wort. Sie starrt noch immer bewegungslos nach vorn aus dem Fenster. „Wenn es jemanden schmerzt, dieses Haus zu betreten, dann ja wohl mich. Schließlich ist es mein Mann, der gestorben ist.“
Urplötzlich herrscht verschämtes Schweigen auf der Rückbank.
Überrascht blicke ich zum Beifahrersitz. Es ist das erste Mal seit Papas Tod, dass Mama von Kummer spricht. Und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.
Nachdenklich betrachte ich ihr Profil. Erstaunlich, wie wenig sie sich verändert hat. Ihre Haut ist mit 65 Jahren noch immer feinporig und rosig, die Gesichtszüge ebenmäßig, und das schmale, aristokratische Näschen lässt sie wie eine in Würde gealterte Filmdiva aussehen. Beneidenswert, denn meine Augenringe sind schon jetzt so dunkel wie der Schlick des Wattenmeers um uns herum. Immerhin habe ich Papas Sommersprossen geerbt. Auch wenn sie mich manchmal ein wenig zu jugendlich wirken lassen und ich sie darum zu geschäftlichen Meetings gerne überschminke, mag ich ihr tanzendes Aussehen. Von Mama habe ich die dunkelbraunen Augen und die welligen Haare. Ihre sind inzwischen kinnlang und von einem feinen Netz aus grauen Fäden durchwebt.
Ich schaue wieder nach vorn, weil der Zug seine Fahrt verlangsamt. Die Besiedelung nimmt zu. In der Ferne blickt man auf Hochhäuser, wir tuckern an dem vollbesetzten Parkplatz eines Supermarktes vorbei. Warum war ich eigentlich noch nie hier?
Seit ich bei der Testamentseröffnung von dem Haus auf Sylt erfahren habe, ahne ich, dass es dazu eine Geschichte gibt. Warum sonst sollte mein Vater es auf mich überschrieben haben? Und wie steht Mama dazu? Bislang habe ich mich nicht getraut, sie darauf anzusprechen.
Wenn ich jetzt allerdings höre, für welchen Zündstoff das Haus unter den Geschwistern sorgt, bereue ich es, meine Tanten mit ins Boot geholt zu haben. Das war vollkommen anders geplant!
Unglücklich betrachte ich die beiden im Rückspiegel. Sie haben haargenau dieselbe Körperhaltung eingenommen. Nur starrt die eine nach links, die andere nach rechts. Unverkennbar Schwestern, auch wenn alle drei sich äußerlich wenig ähneln. Tante Christiane ist die älteste, sieht aber mit ihren 68 Jahren beinahe am Jüngsten aus. Dafür scheint sie einiges zu tun: Ihre Hände sind gepflegt, die Nägel sorgfältig manikürt, mit weiß lackierten Spitzen. Auch ihre Figur ist topp in Schuss. Ich schätze, sie trägt Kleidergröße 36 und kauft ihre Outfits in angesagten und teuren Designerboutiquen. Allerdings lassen ihre faltenfreie Stirn, der glatte Hals und die feste Wangenpartie darauf schließen, dass der Natur etwas auf die Sprünge geholfen wurde.
Tante Annegret hingegen ist zwar mit 62 rechnerisch die jüngste des Trios, aber Alkohol und Zigaretten scheinen in ihrem Leben eine tragende Rolle gespielt zu haben und der eine oder andere Joint kam höchstwahrscheinlich auch noch hinzu. Ihre Haut sieht zerknittert wie eine alte Zeitung aus und ist von fahler Blässe. Kleidungstechnisch mag Annegret es bequem. Sie bevorzugt Jogginganzüge und weite Pullover, kaschiert ihre ausladenden Hüften damit aber weniger, als sie es vermutlich beabsichtigt. Ihre Haare wurden vor längerer Zeit blondiert, der zentimeterdicke Ansatz deutet aber daraufhin, dass sie es mit der Nachfärbung nicht eilig hat.
Es ist seltsam, mit den Dreien auf so engem Raum zusammen zu sein. Außer einer kurzen Begegnung vor etwa dreißig Jahren – damals war ich gerade mal fünf – sind mir meine Tanten fremd. Und Mama … sie hat mich vor langer Zeit enttäuscht. Seitdem meiden wir den Kontakt.
Endlich erreichen wir den Bahnhof von Westerland. Und auf einmal herrscht draußen Hochbetrieb. Unser Verladezug war bis auf den letzten Platz besetzt, doch es geht vergleichsweise schnell, dass ich den Wagen starten und von der Rampe herunterfahren kann. Einige der Fahrzeuge werden bereits winkend erwartet, andere, wie wir, suchen den zügigsten Weg hinaus aus dem Trubel.
Zunächst folge ich den Anweisungen des Navis, aber als ich nach kurzer Fahrt eine Bäckerei entdecke, halte ich es nicht mehr aus. Mir ist inzwischen regelrecht übel vor Hunger, und wenn ich nicht endlich ein Fischbrötchen oder wenigstens eine trockene Brezel zwischen die Zähne bekomme, werde ich vermutlich hinter dem Steuer ohnmächtig. Kurzentschlossen fahre ich rechts ran und parke halbschräg auf dem Gehweg.
„Möchte jemand von euch etwas zu essen?“, erkundige ich mich, während ich hektisch den Anschnallgurt aufschnappen lasse. „Ein Brötchen oder ein Stück Kuchen?“
Meine Mutter schüttelt stumm den Kopf. Ich drehe mich nach hinten. „No way!“, sagt Tante Christiane und hält sich wie zum Schutz die manikürten Hände vor die Taille.
Tante Annegret zögert. Einen Moment scheint sie mit einem Küchlein zu liebäugeln, dann besinnt sie sich und deutet auf einen Jutesack, der ein wenig gequetscht neben ihr steht. „Danke, aber während du mit Kofferpacken beschäftigt warst, habe ich mir noch schnell ein Brot geschmiert.“
„Okay.“ Ich angele auf dem Rücksitz nach meiner Tasche. „Bin gleich zurück.“
Auf dem kurzen Weg vom Auto zur Bäckereitür sehe ich, dass man sich drinnen bereits auf den Feierabend vorbereitet. Eine junge Frau säubert die Auslage, eine weitere Angestellte fegt den Laden. Überrascht schaue ich auf die Uhr und drücke nebenbei die Tür auf. Du liebe Güte, schon nach fünf! Ein Glück, dass die überhaupt noch geöffnet haben.
Eilig betrete ich das moderne Geschäft – und registriere mit Schrecken, dass die Vitrine bereits so gut wie leer ist. Ein einziges Brötchen liegt noch dort, welliger gelber Käse überlappt die untere Hälfte. Und obwohl das Teil kein bisschen ansprechend aussieht, macht mein Herz einen erfreuten Hüpfer. Meine Rettung!
„Guten Tag“, rufe ich der jungen Frau mit platinblonder Kurzhaarfrisur und adretter Schürze zu.
Sie schaut zu mir und nickt.
Doch ehe ich meine Bestellung aufgeben kann, klingelt plötzlich mein Handy. Ungehalten wühle ich in meiner Tasche und werfe, als ich das Telefon gefunden habe, zunächst einen prüfenden Blick aufs Display. Die Firma. Ich muss rangehen. Entschuldigend zwinkere ich der Verkäuferin zu.
„Hallo Maja.“ Ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie ungelegen mir der Anruf in diesem Moment kommt. „Was gibt’s?“
Sofort ergießt sich eine Flut von Fragen über mir. Geduldig stehe ich meiner Kollegin Rede und Antwort, dann werde ich abgelenkt, weil ein Kunde den Laden betritt. Es ist ein Mann in Jeans und Sneakers, schätzungsweise Ende dreißig. Sein Outfit entspricht allen Sylt-Klischees: hellblaues Baumwollhemd, die Ärmel hochgekrempelt, dunkelblonde, zerzauste Haare, und auf der Nase eine verspiegelte Sonnenbrille.
Während ich weiter Majas Worten lausche, nähert sich der Kerl der Auslage. Mit Händen und Füßen versuche ich, die Verkäuferin darauf aufmerksam zu machen, dass ich zuerst an der Reihe bin, doch sie hat nur Augen für den Mann. War ja klar. Er wiederum hat das Brötchen im Fokus. Mein Brötchen.
„Jo möchte wissen, wo du die Zeichnungen für die alternative Fassadengestaltung hinterlegt hast“, piepst Maja in mein Ohr. „Er ist total nervös, weil das Treffen mit dem Planungsausschuss eine Stunde vorgezogen wurde und …“ Ich höre ihre Stimme nur noch aus der Ferne, denn in diesem Moment werde ich Zeuge, wie das Brötchen von der Verkäuferin aus der Vitrine genommen und über den Tresen geschoben wird. Gierig greift der Typ zu.
„Hallo?“, rufe ich empört, ohne zu bedenken, dass Maja vermutlich das Trommelfell klingelt. „Das gehört mir! Sie haben sich vorgedrängelt!“
Wütend starre ich den Typen an, doch es ist zu spät. Er hat die Beute bereits von ihrem Pappteller gefischt und genüsslich seine Kauleiste hineingeschlagen. Vor Enttäuschung wird mir regelrecht schwarz vor Augen.
„Ach ja?“ Mit geradezu aufreizender Ruhe zermalmt er seinen Riesenbissen und schluckt ihn dann im Zeitlupentempo hinunter. „Und wie sollte ich das ahnen? Sie haben schließlich telefoniert. Entweder man steht in einer Schlange an, oder man quasselt in sein Handy, beides funktioniert nicht, wie Sie ja nun wissen.“ Sein skeptischer Blick gleitet an mir herab und verweilt dann auf dem silbernen Ring, den ich an einer Kette um den Hals trage. Ich registriere die ungewöhnliche Farbe seiner Augen: blaugrau mit einem hellen Schimmer. Wie ein Gemälde.
Oder wie kaltes Wasser.
Wütend schnappe ich nach Luft. Was bildet der Kerl sich ein? Statt wenigstens den Versuch einer Entschuldigung zu unternehmen, hält er mir einen Vortrag? Der hat vielleicht Nerven.
„Was?“, rufe ich schrill. Und dann entlädt sich all der Stress, der sich in den vergangenen Wochen in mir aufgestaut hat, inklusive der Horrorfahrt mit meiner Familie hierher. Wie eine gurgelnde Monsterwelle ergießt er sich über dem Fremden. „Wer, bitteschön, hat heutzutage noch Zeit, einfach nur in einer Schlange anzustehen? Mal abgesehen davon, dass es gar keine gab. Ich bin die einzige Kundin! Ich habe Termine einzuhalten und muss die Firma am Laufen halten. Auch meine Korrespondenz erledigt sich nicht von selbst. Unzählige Mails verstopfen mein Postfach. Es sind schon über 200! Und obwohl ich heute noch nichts gegessen habe und vor Hunger fast umfalle, muss ich trotzdem nebenbei telefonieren. Zeitmanagement nennt man das, schon mal was davon gehört?“ Mit einem abschätzigen Blick betrachte ich ihn. „Aber ich bin nun mal kein reicher Schnösel, der glaubt, ihm gehöre die Welt. Nur weil er es sich leisten kann, auf Sylt abzuhängen.“ Ich trete einen Schritt auf ihn zu und pikse ihm mit dem Zeigefinger auf die Brust. Sie ist erstaunlich hart. „Vermutlich sitzen Sie den lieben langen Tag im Sansibar in der Sonne und ordern am laufenden Band Champagner, um den Anderen zu imponieren. Frauen natürlich, ist ja klar.“ Ich mache eine raumgreifende Bewegung, in die ich die vollkommen verdutzte Verkäuferin einschließe. Dann stemme ich die Arme in die Hüften und funkele ihn wieder an. „Soll ich Ihnen mal was sagen? Das ist total armselig!“
Im Nachhinein weiß ich gar nicht, wie ich zu meiner Schlussfolgerung gelangt bin, denn genau genommen sieht der Typ gar nicht schnöselig aus, und seine Haut strahlt auch nicht sonnengebräunt, sondern wirkt eher ein wenig bleich und anämisch. Aber er hat es verdient, beschimpft zu werden! Allein wegen des unverschämten Grinsens, das er schon wieder an den Tag legt.
„Im Sansibar, soso.“
Ich beiße mir auf die Lippen. Um ehrlich zu sein, kenne ich das oder die Sansibar gar nicht, nur aus Erzählungen. Überhaupt kenne ich nichts und niemanden auf Sylt. Woher auch?
„Vielleicht möchten Sie den hier?“ Der Kerl zieht aus der Brusttasche seines Hemdes einen Müsliriegel hervor. „Sie wirken tatsächlich reichlich unterzuckert.“ Wieder ein Grinsen.
Ich fühle augenblicklich, wie mir vor Appetit die Spucke im Mund zusammenläuft, doch diese Schwäche will ich mir unter keinen Umständen eingestehen. Mitnichten!
„Nein danke“, sage ich bemüht lässig, „ich verzichte. Wer weiß, wem Sie den vor der Nase weggeschnappt haben.“
Mit diesen Worten wirbele ich herum und stapfe aus dem Laden. Was bitteschön war das für ein arroganter Kerl?
Auf dem Weg zurück zum Wagen fällt mein Blick auf das Handy in meiner Rechten. Mist! Maja hat inzwischen aufgelegt, aber ich bin dermaßen in Rage, dass ich erst mal Luft holen muss, ehe ich sie zurückrufen kann. Wutschnaubend reiße ich die Fahrertür auf, lasse mich auf den Sitz plumpsen und starte den Motor. Die fragenden Blicke meiner Familie ignoriere ich geflissentlich.
„Wir dachten schon, du kommst gar nicht mehr wieder“, mokiert sich Annegret. „Es ist ziemlich stickig hier drinnen.“ Sie reißt sich ihre Jacke vom Leib.
Kurz fliegt mein Blick zum elektronischen Thermometer: 25 Grad Außentemperatur. Nicht unbedingt tropisch, aber im parkenden Wagen in der Tat etwas heftig.
Ich biege auf die Straße und gebe Gas.
„Bitte fahr’ nicht so schnell, Julia“, kommt es prompt von einem der hinteren Sitze. „Willst du uns auch noch ins Jenseits befördern? Man hat ja gar nichts von der schönen Landschaft.“
Ich atme tief durch. Und sehe mich um.
Der Himmel ist größtenteils bewölkt, vereinzelte violette Wattebäusche kündigen den bevorstehenden Abend an.
„Bitte entschuldigt. Ich habe mich gerade etwas geärgert. Nicht jeder auf der Insel scheint sich über Touristen zu freuen.“
„Don’t worry! Du bist schließlich keine normale Sylt-Touristin“, erklärt Tante Christiane. „Du bist Immobilienbesitzerin!“
Es fällt mir schwer, mich als solche zu sehen.
„Wenn ich recht informiert bin, ist Rantum allerdings einer der günstigeren Orte auf der Insel“, fügt sie hinzu. „Richtig teuer kannst du das Haus also wahrscheinlich nicht verkaufen.“
„Ach, und ich dachte, am preiswertesten sei es in Westerland“, widerspricht Annegret. Sie hat sich ihren Proviant aus dem Stoffsack geschnappt und schaut kauend zwischen den Straßenseiten hin und her. „Andererseits … billig scheint es hier nirgendwo zu sein.“
„Als wenn du Ahnung von Geschäften hättest, Anne.“ Tante Christiane gibt einen unwilligen Zischlaut von sich. „Ausgerechnet du.“
Ehe meine Tanten sich in den nächsten Streit hineinsteigern, oder ich mich vergesse und kurz mal von Annegrets Stulle abbeiße, sage ich beschwichtigend: „Fahren wir erst mal zum Haus, dann sehen wir uns die Umgebung an.“
Meine Neugierde ist ein wenig geheuchelt, denn im Grunde interessiert mich die Insel kein Stück. Was soll ich mit einem Haus auf Sylt? Urlaub verbringe ich nach Möglichkeit in Ländern mit Schönwettergarantie. Und die Vorstellung, hier auf der Insel überteuerte Preise für Essen und Trinken zu bezahlen, um Teil des Schickimicki-Publikums zu sein, schreckt mich regelrecht ab. Nein, hier möchte ich nicht ständig hinfahren müssen, um nach dem Rechten zu sehen. Mein Ziel ist es darum, das Haus so zügig wie möglich zu verkaufen, um anschließend sofort nach Hause zurückzufahren. Dort stapelt sich die Arbeit. Zwar hält Jo die Stellung, aber unser Architekturbüro nimmt zurzeit in einer wichtigen Ausschreibung teil. Es geht um ein Neubauprojekt, ein Einkaufszentrum im Süden Hamburgs. Bekäme unsere Firma den Zuschlag, wäre das phantastisch. Gestern haben wir endlich die Unterlagen eingereicht, aber seit sich alles um diesen Pitch dreht, hat sich verständlicherweise andere Arbeit angestaut. Ich sollte mich schleunigst mal melden, nachdem ich Maja so unfein abgehängt habe.
Doch erst einmal folgen wir der Hauptstraße. Verrückt, dass man die gesamte Zeit über gar nicht merkt, dass wir uns auf einer Insel befinden. Zumal nicht unbedingt wenig Verkehr herrscht. Fahrräder, Autos, Fußgänger, man hat das Gefühl, halb Sylt ist auf den Beinen.
Fast hätte ich das Ortsschild von Rantum übersehen, das gelb und blitzeblank gewienert rechts von uns am Straßenrand prangt.
Wir biegen ab. Spitzgiebelige Reetdachhäuser ducken sich in die Landschaft, die hier aus wellenförmigen, grün bewachsenen Hügeln besteht. Möwen kreisen vor der aufgetürmten Wolkenformation, und in der Ferne hat sich ein gelbgoldener Sonnenstrahl fast waagerecht seinen Weg gebahnt. Mit müdem Schein streicht er über das Dünengras. Natur so weit das Auge reicht.
Ich konzentriere mich wieder auf die Straße und biege wenig später in den Austernfischerweg. Das Haus mit der Nummer 7 liegt mitten in einer Kurve, ich entdecke es etwa im selben Augenblick, als das Navi uns verkündet, am Ziel zu sein. Kurzentschlossen parke ich hinter einem heruntergekommenen Suzuki-Jeep.
Als das Motorengeräusch erstirbt, herrscht plötzlich eine gespannte Stille im Wagen. Meine Mutter knibbelt an ihren Fingernägeln, beide Tanten recken die Hälse, ich starre mit großen Augen über das Lenkrad gebeugt nach vorn.
Das Gebäude, ein mittelgroßes Haus im Friesenstil mit blassrotem Stein und geschwungenem Reetdach, sieht gar nicht mal so übel aus. Es hat zwei Stockwerke, im oberen erspähe ich ein zweiflügeliges Fenster mit Lamellen. Darüber wölbt sich das Dach wie eine maßgeschneiderte Haube. Ein Schlumpfhaus.
Tante Christiane durchbricht die Ruhe: „Es sieht irgendwie anders aus, als ich es in Erinnerung hatte. Merkwürdig. Allein der Vorgarten – amazing! Wer hat denn den in Schuss gehalten?“ Fragend wandert ihr Blick zu mir.
„Keine Ahnung.“ Automatisch zucke ich mit den Schultern. „Eventuell hat Papa jemanden damit beauftragt?“
„Well, lieber hätte er sich um das Dach kümmern sollen. Ist das Reet?“ Sie spricht mehr zu sich selbst, denn ihr Blick ist starr aus dem Fenster gerichtet. „Hatte das Haus früher auch schon ein Reetdach?“
„Ist doch wumpe“, antwortet ihre Schwester. „Schaut lieber mal, was das für eine urige Hütte ist“, ruft sie begeistert. „So friesisch. Ich hätte schwören können, die Fassade sei grau gewesen. Hat Ralf sie verputzen lassen?“
„Anyway“, unterbricht Tante Christiane, „das Dach müsste neu gedeckt werden. Ist vielleicht nicht zwingend in diesem Jahr nötig, aber es mindert auf jeden Fall den Verkaufserlös.“
„Tja …“, antworte ich, weil ich überhaupt keine Idee habe, was so ein Haus in dieser Lage kosten könnte. Ob nun mit oder ohne neuem Dach.
„Bestimmt ist es eine Million wert“, tippt Tante Annegret ins Blaue, kann sich aber eine Anspielung auf ihre Schwester nicht verkneifen: „Aber ich bin ja hier nicht die Streberin, die alles weiß.“ Ich sehe im Rückspiegel, dass ihre Augen fast gierig auf das Haus gerichtet sind. „Eine Million! Die gehört dann dir, Julia. Allein.“ Der Neid in ihrer Stimme ist nicht zu überhören.
Mir wird schwindelig bei dem Gedanken an eine derartige Summe. Ich soll so einen Batzen Geld erhalten? Ich? Mein linkes Auge beginnt zu zucken. Mit dieser Summe könnte ich meinen UND Jos Anteil für die GmbH hinlegen, die er so schnell wie möglich gründen will. Dadurch wäre die Firma abgesichert, wenn wir in Zukunft Großprojekte im Ausland abwickeln so wie Jo sich das vorstellt. Außerdem würde ich gerne etwas auf die hohe Kante legen, sicher ist sicher. Hinzu kommt, dass mich der Steuerberater vorgewarnt hat: Ich werde einen Batzen Erbschaftssteuer zu bezahlen haben. Na, hoffentlich bleibt am Ende überhaupt noch etwas übrig, damit Jo und ich mal wieder eine Reise unternehmen können. Nichts großes, nur ein wenig Ausspannen zu zweit. Im letzten Jahr ist unsere Beziehung definitiv zu kurz gekommen, weil wir pausenlos gearbeitet haben. Es wird Zeit, ihr neues Leben einzuhauchen.
„Eine Million bekommt Julia nicht dafür.“ Tante Christiane schüttelt vehement den Kopf. „Never. Höchstens die Hälfte.“
Plötzlich spüre ich die Hand meiner Mutter auf meinem Arm. Als sei sie in Gedanken noch immer unendlich weit weg, schaut sie durch mich hindurch und sagt: „Ich habe keine Ahnung, wie es im Haus aussieht, Julia. Sei bitte nicht enttäuscht.“
Ich stecke mit meinen Überlegungen immer noch bei den horrenden Summen, mit denen meine Tanten auf der Rückbank jonglieren, darum begreife ich Mamas Worte nicht sofort. Dazu die vertraute Geste – ich gerate ins Schwimmen.
„Ähm … also …“ Wovon redet sie? Wie soll es schon drinnen aussehen? Gut möglich, dass sich eine unschöne Staubschicht angesammelt hat oder Unordnung herrscht, aber das muss ihr nun wirklich keine Sorgen bereiten. „Wann bist du denn das letzte Mal hier gewesen?“, frage ich.
Mama zieht ihre Hand fort und starrt wieder aus dem Auto. Sie bleibt mir die Antwort schuldig.
Stattdessen wird Annegret auf dem Rücksitz ungeduldig: „Wollen wir nicht endlich aussteigen und uns im Haus umsehen? Ich kriege hier drinnen die Hitze!“ Mit ihrer mopsigen Hand fächert sie sich Luft zu.
Offenbar warten alle drei darauf, dass ich den Anfang mache und die Initiative ergreife. Also tue ich ihnen den Gefallen. Energisch lasse ich den Gurt aufschnappen. „Hoffentlich finden wir irgendwo ein paar Konserven im Schrank. Ich sterbe gleich vor Hunger.“
Nacheinander quetschen sich alle aus dem Wagen. Einzig meine Mutter macht keinerlei Anstalten, in Gang zu kommen.
„Los, Beate“, drängelt Annegret. „Worauf wartest du? Früher bist du doch auch immer vorgeprescht, um dir ein oberes Etagenbetten zu sichern.“ Sie verzieht gequält das Gesicht. „Ich musste immer unten schlafen.“
Mama bleibt weiter stur sitzen. Sie lässt sich sogar noch etwas tiefer in ihren Sitz gleiten. Wie ein störrisches Kind hat sie die Handflächen unter den Po geschoben und die Schultern hochgezogen. Undeutlich nuschelt sie: „Ich brauche noch einen Moment. Es ist nicht so einfach.“
Ich nicke.
„Lass dir Zeit. Aber … du musst irgendwann aussteigen, wenn du nicht im Auto übernachten möchtest“, erinnere ich sie sanft. „Wir wollen hier doch eine Weile wohnen.“
Mama schaut mich an. Ihr Blick ist unergründlich. „Ich … ähm … Geht ihr schon mal vor. Ich sammele mich kurz und komme dann nach.“
„Also weißt du“, grätscht Christiane in das Gespräch, „ich bin auch nicht gerade scharf darauf, an die alten Zeiten erinnert zu werden. Das Haus, du und Ralf, was soll ich denn sagen? Ich wurde von euch …“
„Jetzt lass doch mal die alten Zeiten“, fährt Annegret ihr mit rauer Stimme harsch über den Mund. „Niemand hier will das hören.“ Sie gibt ihrer Schwester einen leichten Schubs, damit diese sich in Richtung Haus bewegt. „Los, geh. Lass Beate sich sammeln, sie wird bestimmt gleich nachkommen.“
Ein kniehoher Steinwall dient als Zaun zur Straße. Zu dritt schlüpfen wir durch eine hölzerne Pforte und betreten den Vorgarten.
Mir zittern die Finger, während ich in meiner Handtasche nach dem Schlüssel krame. Der Nachlassverwalter hatte ihn mir wie ein kostbares Schmuckstück überreicht. Seitdem trage ich ihn sorgfältig verschlossen in einer Seitentasche. Doch als ich das klobige Stück Metall jetzt in Händen halte, weiß ich sofort, dass der Schlüssel nicht passen wird. Er ist grobzinkig und irgendwie riesig, wohingegen das Türschloss flach und modern aussieht und vermutlich einen gefrästen Spezialschlüssel erfordert.
Ich probiere es trotzdem – und scheitere.
„Wie kann das sein?“, mokiert sich Annegret. „Hat man dir womöglich ein falsches Exemplar ausgehändigt?“
„Das kann ich mir nicht vorstellen.“ Gedankenverloren drehe ich den Schlüssel in meinen Händen. „Vielleicht hat Papa irgendwann mal ein Sicherheitsschloss eingebaut und vergessen, den neuen Schlüssel im Safe zu hinterlegen?“ Das sähe meinem oberkorrekten Vater allerdings überhaupt nicht ähnlich. Er war ein Kontrollfreak, jemand der immer doppelt an alles dachte.
Hilfesuchend blicke ich zum Wagen und wedele mit den Armen, so dass meine Mutter sich bemüßigt fühlt, die Scheibe ein Stück herunterfahren zu lassen.
„Wir kommen nicht rein“, rufe ich ihr zu, aber sie zuckt nur stumm mit den Schultern.
„Vielleicht ist es doch das falsche Haus?“, rätselt Annegret. „Oder meint ihr, Ralf wollte gar nicht, dass hier jemand reinkommt?“ Ihr Tonfall hat etwas Geheimnisvolles.
Prompt wird sie von ihrer Schwester abgekanzelt. „Quatsch. Dann hätte er das Haus Julia ja nicht vermacht.“
Klingt logisch. Es muss also einen anderen Grund geben. Fragt sich nur welchen.
Ratlos blicke ich mich um, während Annegret und Christiane wie auf ein stummes Kommando hin beginnen, unter der Fußmatte, im Blumenkübel neben dem Eingang, auf den Fensterbänken und unter großen Steinen am Haus zu suchen. Doch Fehlanzeige. Als wir gerade erwägen, eines der Fenster einzuschlagen, ertönt ein leises Quietschen. Es kommt von oben.
Wir treten ein paar Schritte zurück und recken die Hälse. Im Giebelfenster über dem Eingang erscheint ein geflochtener blonder Zopf. Dann das dazugehörige Gesicht einer Frau. Misstrauisch beäugt sie uns.
„Ja bitte?“, fragt sie. „Wie kann ich helfen?“
Ich schätze sie auf Mitte 50, sie ist extrem blass und wirkt irgendwie kränklich.
„Äh … Hallo“, rufe ich irritiert. Vielleicht ist sie eine Hilfskraft, die Haus und Garten in Schuss hält? „Ich bin Julia Hirschfeldt, die Tochter von Ralf Hirschfeldt. Mir wurde aus Versehen ein falscher Schlüssel ausgehändigt.“ Wie zum Beweis halte ich das Teil in die Höhe. „Könnten Sie uns bitte aufmachen?“
Die Frau am Fenster zuckt kurz zurück, dann kneift sie die Augen zusammen und schüttelt den Kopf. „Nein, das geht nicht.“
Verblüfft schauen meine Tanten und ich uns an. Ein riesiges Fragezeichen schwebt über unseren Köpfen.
Tante Christiane fängt sich als erste. „Wer sind Sie denn überhaupt?“, will sie wissen. „I mean: Was tun Sie in dem Haus meiner Nichte?“
Die Fremde reckt selbstbewusst das Kinn in die Höhe. „Ich bin Charlotte Engel. Ich wohne hier.“